B.K.S. Iyengar

Zum 100. Geburtstag

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Dank ihm standen Künstler Kopf und Millionen von Schülern in aller Welt richten sich gemäss seinen Lehren auf den Matten aus: Am 14. Dezember wäre der grosse Yogameister B.K.S. Iyengar 100 Jahre alt geworden. Er trug massgeblich dazu bei, dass der Yoga den Weg in den Westen fand.

Text: Karin Reber

Yoga und ich sind eins», sagte B.K.S. Iyengar im Sommer 2010, als ich ihn interviewte. Von 1934 bis zu seinem Tod am 20. August 2014 hatte er jeden Tag praktiziert. Es gab Zeiten, da übte er zehn Stunden am Tag. Und selbst im stolzen Alter von 92 Jahren, als ich ihn im Ramamani Iyengar Memorial Yoga Institut in Pune besuchte, praktizierte er immer noch drei Stunden täglich. «Ich bin heute total verbunden mit jeder Zelle meines Körpers», sagte er damals. «Früher hörte mein Körper nicht zu. Heute sind meine Stellungen besser als auf den Fotos in ‹Licht auf Yoga›».

«Licht auf Yoga» wurde 1966 in London publiziert und gilt vielen als Bibel des Yoga. Ob Bibel oder nicht – es ist auch über fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen ein Standardwerk zum Hatha-Yoga. Die systematische Anordnung von 200 Asanas und deren Variationen geben Anfängern und Fortgeschrittenen einen guten Überblick, was Yoga ist und wie geübt werden soll, um auch anspruchsvollere Stellungen zu meistern. Iyengar beschreibt ausführlich, wie man in jedes Asana hineingeht, wie es wirkt und was die Sanskritnamen bedeuten. 600 Schwarz-Weiss-Fotos des damals 40-jährigen Yogameisters zeigen eindrücklich, wie der Körper in den Stellungen arbeitet.

Struktur für den Unterricht

B.K.S. Iyengars grosses Verdienst ist, das Praktizieren der Asanas auf ein neues Niveau gebracht und das Unterrichten strukturiert zu haben. Sein Guru und Schwager T. Krishnamacharya führte ihn zwar in den Yoga ein und zeigte dem kränklichen Jugendlichen damit den Weg auf zu Gesundheit und Kraft. Doch wie ein Asana unterrichtet werden muss, da-mit die Schüler es verstehen, wie ein Körperteil bewegt werden soll, damit er den grössten Effekt hat, erkundete Iyengar mit viel Neugier und Hartnäckigkeit am eigenen Körper. «Ich wollte herausfinden, wie genau die einzelnen Haltungen funktionieren: wie das Becken stehen muss, damit es bei der Drehung der Wirbelsäule ein solides Fundament bildet; welchen Zeh ich anspannen muss, um Innen- und Aussenseite des Beines zu aktivieren», sagte er in einem Interview mit dem «Süddeutschen Magazin». Diese präzise Ausrichtung des Körpers und das lange Verweilen im Asana zeichnen den Iyengar Yoga aus, der die meisten heutigen Yogastile massgeblich geprägt hat. B.K.S. Iyengar hat zudem einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung des Yoga im Westen geleistet. Ohne sein unermüdliches Reisen und seine unzähligen Yoga-Vorführungen hätte der Yoga nicht die Popularität erreicht, die er heute hat.

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Er starb zufrieden mit sich

Kein Wunder, wurde sein Tod im Au-gust 2014 weltweit in den Nachrichten vermeldet und wurden grosse Nachrufe zu ihm und seinem Wirken geschrieben. Seine Enkelin Abhijata Sridhar-Iyengar, die heute am Institut und mit Workshops auf der ganzen Welt sein Vermächtnis weitergibt, sagte damals: «Mein Grossvater hat früh erkannt, dass der Yoga, der bis dahin als mystisches Bestreben angeschaut worden war, für jeden etwas zu bieten hatte. Nicht nur für die intellektuell oder spirituell Interessierten.» Er sei zufrieden gestorben, erklärte sie. «Noch ein paar Wochen vor seinem Tod hat er gesagt: ‹Ich bin zufrieden mit dem, was ich erreicht habe.› Er hat den Yoga in die Welt gebracht und das wusste er.»

Ein schwächliches Baby

Dass er ein Pionier auf dem Weg des Yoga werden und ein solch grosses Vermächtnis hinterlassen würde, war bei seiner Geburt alles andere als klar. Als er am 14. Dezember 1918 als das elfte von 13. Kindern in eine arme Familie im südlichen Bundesstaat Karnataka geboren wurde, rechnete niemand damit, dass er alt werden würde. Seine Mutter hatte sich während der Schwangerschaft an der weltweiten Grippenepidemie angesteckt, die allein in Indien 16 Millionen Menschenleben forderte. Die Folge davon war, dass Bellur Krishnamachar Sundararaja ein schwächliches Baby war und seine Kindheit von langen Krankheiten geprägt wurde. Er konnte während Monaten nicht zur Schule gehen, war chronisch unterernährt und litt an Malaria, Typhus und Tuberkulose. Einer seiner Ärzte erklärte deshalb, der Knabe werde keine zwanzig Jahre alt werden. Drei sei-ner Geschwister starben, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht hatten, und sein Vater erlag einer Blindarmentzündung, als B.K.S. 9 Jahre alt war. Als er mit 16 Jahren zu T. Krishnamacharya, dem Mann seiner Schwester, kam, waren «meine Arme dünn, meine Beine spindeldürr und mein Bauch gebläht», erzählt Iyengar. «Mein Kopf hing herunter und ich konnte ihn nur mit grosser Anstrengung anheben.»

Die Beziehung zu seinem Schwager und Guru war nicht einfach. Auch wenn er Krishnamacharya bis an sein Lebensende geehrt und immer betont hat, dass er ihm alles verdanke, hatte er als Jugendlicher Angst vor dem harschen und launischen Mann, der ihn um 4 Uhr morgens aufstehen liess, damit er vor der Schule den Garten wässerte und im Haushalt mithalf.

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Vater des modernen Yoga

«Der Vater des modernen Yoga», wie Krishnamacharya gerne genannt wird, hatte sich als junger Mann entschieden, Yoga zu studieren. Obwohl Yoga in dieser Zeit kaum Ansehen genoss, verbrachte Krishnamacharya viele Jahre in Nepal und in Tibet bei Yogis und studierte an den besten Universitäten des Landes die indische Philosophie. Der Maharaja von Mysore nahm Krishnamacharya 1934 unter seine Fittiche und beauftragte ihn, an seinem Hof Yoga zu unterrichten. Iyengar ging mit der Hoffnung nach Mysore, am Hof seine beschränkte Schulbildung zu verbessern. Stattdessen wurde er in den Yoga eingeführt. Doch sein kränklicher Körper und seine Unbeweglichkeit enttäuschten Krishnamacharya. Er überliess Iyengar sich selbst. Am An-fang konnte dieser beim Vorwärts-beugen mit seinen Fingern knapp seine Knien erreichen. Doch seine Hartnäckigkeit und sein eiserner Wille führten dazu, dass er in den kommenden zwei Jahren zu einem herausragenden Yogaschüler wurde.

Spott und Verachtung

Iyengar nahm schliesslich auch an den Yogademonstrationen teil, die Krishnamacharya auf Wunsch des Maharaja im ganzen Land durch-führte, um zu zeigen, dass der Yoga nicht nur ein spiritueller Weg sei, sondern auch den Körper stärke. Die Yogatruppe wurde oft verhöhnt oder wie Zirkusdarsteller behandelt. Iyengar schreibt in seinem Buch «Licht fürs Leben»: «Ich begann vor 70 Jahren mit Yoga, als Spott, Abweisung und unverblümte Verurteilung das Los von Yogasuchenden war. Wäre ich ein Sadhu, ein Bettelmönch, geworden und hätte auf der Strasse gebettelt, hätte ich mehr Respekt erhalten.»

Umzug nach Pune

Iyengar war nicht unglücklich, als er 1937 die Gelegenheit bekam, von Mysore wegzuziehen und im angesehenen Sportklub von Pune Yoga zu unterrichten. Doch auch dieser Schritt war kein Zuckerschlecken. Er wurde mit jungen Männern konfrontiert, die nicht nur gebildeter und reicher waren als er, sie waren auch besser ernährt, stärker und gesünder als ihr Lehrer. Zudem merkte er, dass er nie eine systematische Technik erlernt hatte, um die Ausübung von Asanas weiterzugeben.

Iyengar liess sich davon nicht unter-kriegen. Anstatt auf-zugeben, begann er, zehn Stunden täglich zu üben, und benutzte seinen Körper als Versuchskaninchen: Die Iyengar-Methode entstand durch Ausprobieren – durch Erfolg und Misserfolg. Damit entwickelte Iyengar eine klare, systematische Annäherung an den Yoga. Dank dem Einsatz von Hilfsmitteln und der Anpassung der Asanas machte er Yoga zudem für alle Menschen zugänglich – egal in welchem Alter und mit welchen Gebrechen sie zu ihm kamen. Es dauerte lange, bis B.K.S. Iyengar genug verdiente, um einigermassen anständig leben zu können. Oft hatte er nicht mehr als eine Tasse Tee pro Tag oder füllte sich den Bauch mit Wasser, um ohne nagende Hungergefühle üben zu können. Als er Ramamani heiratete, waren sie auf Geschenke und Spenden von Schülern angewiesen, um ihren Haushalt aufzubauen.

Begegnung mit Menuhin

Doch sein Ruf als exzellenter Yogalehrer begann sich zu verbreiten, und als er 1952 im damaligen Bombay den Geigenvirtuosen Yehudi Menuhin traf, änderte sich sein ganzes Leben (siehe dazu auch das Porträt über Brigitte Bögli). Iyengar erzählte in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CNN, dass er für ein Fünf-Minuten-Treffen eingeladen worden sei. Doch Menuhin war so beeindruckt, dass sie über drei Stunden zusammen arbeiteten. «Als ich ihn im Kopfstand richtig ausgerichtet hatte, sagte Menuhin: ‹Ich habe noch nie ein solches Hochgefühl erlebt.›» Yehudi Menuhin lud Iyengar zwei Jahre später nach Gstaad ein, wo dieser die Familie und Freunde des Geigers unterrichtete und mit vielen Yoga-Interessierten in Kontakt kam. 1956 reiste er zum ersten Mal nach New York, doch damals sei das Interesse klein gewesen. Erst zehn Jahre später, als sich viele im Zug der Hippie-Bewegung für Bewusstseinserweiterung und Erleuchtung zu interessieren begannen, zog er immer mehr Leute an. Von da an reiste Iyengar regelmässig in den Westen, um die stetig wachsende Gemeinschaft von Yogapraktizierenden zu unterrichten.

Asanas sind eine Brücke

Iyengar wurde immer wieder vorgeworfen, er habe über dem körperlichen Aspekt des Yoga dessen spirituelle Seite vergessen. Doch für ihn war seine Arbeit mit dem Körper immer ein spiritueller Akt: «Asanas sind eine Brücke, um Körper und Geist zu verbinden», sagte er immer wieder. Und: «Wie wollt ihr Gott erkennen, wenn ihr nicht einmal eure grosse Zehe kennt und spürt?» Im Interview in Pune sagte er zu mir:

«Meine Asana-Praxis hat mich gelehrt, näher zu meiner Seele zu kommen. Wie bei einem Spiegel, in dem wir uns betrachten wollen, müssen wir unseren Körper jeden Tag reinigen, damit die Seele leuchten kann.» Keine Frage – B.K.S. Iyengars Seele leuchtet auch vier Jahre nach seinem Tod noch hell. Er hat Tausende von Schülerinnen und Schülern gelehrt und inspiriert und eine grosse Anzahl hervorragender Lehreinnen und Lehrer ausgebildet. Diese setzen alles daran, sein Feuer und seine grosse Leidenschaft für den Yoga weiterzutragen.

B.K.S. Iyengar celebrating his 94th birthday in Bellur, India, November 2012

Der Iyengar-Yoga zeichnet sich durch präzise äussere und innere Ausrichtung im Üben der Asanas und des Pranayamas aus. Dabei wird die Konzentration geschult, die Gedanken kom-men zur Ruhe und die Übenden können tiefere Aspekte ihres Seins erfahren. Die von B.K.S. Iyengar entwickelten Hilfsmittel machen es auch Menschen mit weniger beweglichen Körpern oder mit Gebrechen möglich, in die Asanas zu gehen. Zudem wecken sie das Bewusstsein für die korrekte Arbeit in den Stellungen. Der Iyengar-Yoga hat sich auch dank seinem therapeu-tischen Ansatz einen Namen gemacht. Die Wirkungen dieser therapeutischen Arbeit wurde in vielen wissenschaftlichen Studien belegt.